„Spotlight – Blick hinter die Kulissen“ – Folge 46 vom 26. Mai 2023

Was hat die tamilische Renaissance ausgelöst?

Was hat die tamilische Renaissance ausgelöst?

Da sind wir dann tatsächlich im 19. Jahrhundert angekommen. Hier kommt es zur Entdeckung der Tatsache, dass das Tamil neben den drei anderen südindischen Sprachen eine eigene Sprachfamilie bildet, die von den Linguisten als die dravidischen Sprachen bezeichnet werden. Dies ist eine Theorie, die im Wesentlichen auf den Forschungen des schottischen Missionars Robert Caldwell beruht, der in den 1850er-Jahren ein Buch darüber schrieb und die Theorie aufstellt, dass diese dravidischen Sprachen auf eine alte Sprache zurückgehen, die die Sprache der ursprünglichen Bevölkerung Indiens sei und gesprochen wurde, noch bevor die Āryas mit Sanskrit (aus dem sich dann später das Hindi entwickelte) eingewandert sind. Das löste erst einmal einen großen Stolz in der tamilisch sprechenden Bevölkerung aus, eben die ältere Geschichte zu haben, die älteren Wurzeln, die ursprünglichen Bewohner des Subkontinents zu sein. Es fördert aber auch ein großes Interesse an der früheren Literatur. Denn in den frühen Gedichten, die vor den Beginn unserer Zeitrechnung zurückreichen, finden sich noch keine Hinweise auf so etwas wie Kasten oder andere Hindu-Lehren. Man meinte, darin Hinweise auf die ursprüngliche dravidische Gesellschaft entdecken zu können. Das sorgte dafür, dass sich Gelehrte wie U. V. Swaminatha Iyer auf die Suche machen nach solchen alten Texten, diese Handschriftensammlungen und Tempelbibliotheken ausfindig machen und in den 1890er-Jahren erstmals in gedruckter Form veröffentlichen. Es wurden richtige Bestseller, die eine große Begeisterung auslösten, in diesen alten Gedichten den eigenen Wurzeln nachzuspüren, sie wieder zu entdecken und sie dann auch nutzbar zu machen für eine sich später entwickelnde Gesellschaftskritik, wo man sagte, vieles von dem, was jetzt soziale Probleme auslöst, die Dominanz der Brahmanen, die Behandlung von Menschen als „Unberührbare“, die schwierige Stellung von Frauen beispielsweise – das sind Phänomene, die eigentlich in einer Art Kolonialisierungsvorgang von den Āryas übergestülpt wurden und die es in der Frühzeit der eigenen Geschichte ursprünglich so nicht gab.

Dr. Georg Noack,
Kurator Ostasien und Festland-Südostasien,
Linden-Museum Stuttgart