„Spotlight – Blick hinter die Kulissen“ – Folge 45 vom 23. Mai 2023
Was war die Bhakti-Bewegung?
Die Bhakti-Bewegung war eine gesellschaftliche und vor allem eine religiöse Bewegung, die etwa vom 6. bis zum 9. Jahrhundert im Süden Indiens entstand und sich von dort aus ausbreitete. Sie brachte ein neues Gottesverständnis mit sich und einen breiteren Zugang zu den Göttern. Bis dahin war es so, dass der Kontakt zwischen Menschen und Göttern nur über das Ritual der Priester, der Brahmanen stattfand, die in den Tempeln vor den Götterstatuen Rituale ausführen. Dafür nahmen sie Spenden und Opfer von der Bevölkerung entgegen und gaben sie Kraft ihres Amtes an die Götter weiter. Die nicht-priesterliche Bevölkerung hatte jedoch keinen direkten Kontakt zu den Göttern, sondern nur vermittelt durch die Priester. Die Bhakti-Bewegung bricht genau das auf, und zwar insofern, als dass brahmanische Ritual nur noch eine der möglichen Formen der Verehrung der Götter ist und jetzt jeder, unabhängig von seiner Kastenzugehörigkeit, seines Berufs die Möglichkeit findet, eine direkte Gottesbeziehung zu entwickeln. In der Sonderausstellung des Linden-Museums Stuttgart „Von Liebe und Krieg. Tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Welt“ werden verschiedene Protagonisten dieser Bewegung vorgestellt, die teilweise sogar verschiedene rituelle Regeln brechen, die z.B. Reinheitsvorstellungen betreffen, aber deren Hingabe trotzdem so groß ist und deren Intimität in der Beziehung zu dem jeweiligen Gott so intensiv ist, dass die Form nicht mehr die entscheidende Rolle spielt. Es ist insofern eine demokratisierende Bewegung, als dass sie einen Zugang zu den Göttern für alle Bevölkerungsschichten ermöglicht.
Dr. Georg Noack,
Kurator Ostasien und Festland-Südostasien,
Linden-Museum Stuttgart