„Spotlight – Blick hinter die Kulissen“ – Folge 35 vom 23. März 2023
Grundsätzlich ist es so, dass sich die Rolle des Tanzes in der Gesellschaft verändert hat. Davon erzählt auch die Sonderausstellung „Von Liebe und Krieg. Tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Welt“ im Linden-Museum Stuttgart. Bis in die Kolonialzeit hinein ist es so gewesen, dass die Tänzerinnen den Tempeln geopfert wurden als junge Menschen und dann bei Festen und Ritualen zu tanzen hatten. Das war kein sehr hoch angesehener Beruf und es gab immer wieder auch Gerüchte, dass sie nicht nur in den Tempeln getanzt haben, sondern auch sexuelle Dienste für Priester oder auch Patrone des Tempels zu leisten hatten, wobei es wenige gesicherte Informationen darüber gibt. Diese Gerüchte haben aber dann dazu geführt, dass die britische Kolonialverwaltung versucht hat, das zu unterbinden. Dadurch ist der Tempeltanz praktisch ausgestorben und ist dann neu entdeckt und neu erfunden worden als eine Kunstform, die nicht mehr im Tempel, sondern auf der Bühne stattfindet.
Dadurch ist der Bharatanatyam, der Tanz Indiens, von Rukmini Devi Arundale, einer Brahmanentochter, die sich dafür interessierte und begeisterte, neu erfunden worden als eine Elitekunstform. Diejenigen, die heute den Tanz studieren und auf den Bühnen Indiens praktizieren sind eher Menschen, die aus gehobenen Gesellschaftsschichten und ranghohen Kasten kommen. Von daher hat sich die Bedeutung grundsätzlich gewandelt. Die Frage nach dem Schicksal der früheren Tempeltänzerinnen im Alter ist relativ einfach zu beantworten, denn das Phänomen gibt es heute noch. In den Tempeln gibt es sehr viele Speiseopfer und Rituale bei denen zunächst den Göttern Lebensmittel dargebracht werden. Diese werden dann hinterher aufgeteilt auf die anwesenden Gläubigen und deswegen siedeln sich im Umfeld der Tempel viele alte Menschen an, die sonst keinen Lebensunterhalt mehr verdienen, um von den täglichen Verteilungen von Lebensmitteln profitieren zu können. So wird es wohl auch den Tempeltänzerinnen damals gegangen sein.
Dr. Georg Noack,
Kurator Ostasien und Festland-Südostasien,
Linden-Museum Stuttgart